Ein Band mit Gedichten von Rudolph Bauer
Der Maler Heinrich Vogeler (1872-1942) schuf zwischen 1914 und 1934 von ihm so benannte „Komplexbilder“. Sie bestehen aus Kompositionen verschiedener Szenen, realistischen Darstellungen von Wirklichkeitsausschnitten, die einem bestimmten Thema untergeordnet sind. Die Gedichte, die der Bremer Sozialwissenschaftler und bildende Künstler Rudolph Bauer in seinem neunten Gedichtband „Aus gegebenem Anlass“ zusammengestellt hat, können in Anlehnung an dieses Verfahren Komplexgedichte genannt werden: Sie sind mit einer gewissen Strenge einem zentralen Motiv untergeordnet, der Erhaltung von Frieden. Sie enthalten zugleich viele scharfe Beobachtungen und oft die Aufforderung, den Feinden von Frieden zu widerstehen und zu handeln.
Die Aufgeforderten sind verschieden, die von Bauer genannten Kriegsherren aus Vergangenheit und Gegenwart – auf diesem Gebiet finden sich keine Frauen – ähneln sich. Bauer befasst sich u. a. mit der „Hunnenrede“ Kaiser Wilhelms II. 1900 in Bremerhaven, mit dem deutschen Kolonialgeneral und der Bremer Lokalgröße Paul von Lettow-Vorbeck (1870-1964) sowie mit „Deutschlands Prediger Gauck“. Aktuell und bissig wird es im letzten der acht Abschnitte, der denselben Titel wie das Buch trägt – z. B. so: „Aus der Natterngrube des Militarismus. im zeitlichen ablauf kam erst mal / das kriegsgebrüll dann a. f. d. / zunächst militärischer ernstfall / dann völkische brutalité / erst als fussvolk der nato marschieren / ‚mehr macht mehr verantwortung’ zählt / um dann sich stolz zu gerieren / als die menschenrechtsretter der welt / die tarnuniformierte von leyen /befehligt die mordbrennerschar / zur rettung der angeblich freien / der freiesten welt fürwahr / und identitäre sie schreien / das abendland sei in gefahr.“
Der gegebene Anlass ist der Zusammenhang von offizieller, moralisch verpackter Kriegspolitik und der lautstarken Begleitung durch „Retrofaschisten“. In einem anderen Gedicht heißt es zu dieser Verbindung: „die hass säen / bekämpft aber auch die / welche den hass militärisch / nutzen zum angriff“. Bauer nutzt sowohl die kleine Form und spießt SPD-Grüne-Feldherren im Dreizeiler auf: „Jugoslawien-Krieger. schröder und fischer / die rot-grüne panzerfaust / der gewaltlosen“. Verwendet aber auch die große: Den Band eröffnet eine über 14 Seiten gedruckte Adaption des letzten von Wolfgang Borchert (1921-1947) vor seinem Tod verfassten Textes „Dann gibt es nur eins“. Bauer ergänzt dessen Zeilen mit eigenen und stellt ihn unter die Überschrift „Es gilt noch immer“. Bei Borchert heißt es zu Beginn: „Du, Mann an der Maschine und Mann in der Werkstatt. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst keine Wasserrohre und keine Kochtöpfe mehr machen – sondern Stahlhelme und Maschinengewehre, dann gibt es nur eins: Sag NEIN!“ Bauer setzt fort: „auch wenn sie keine befehle erteilen / sondern dir drohen / mit dem verlust des arbeitsplatzes / mit hartz-IV-schikanen / falls du dich weigerst / den marder herzustellen den leopard / tornados den eurofighter / kampfhubschrauber oder u-boote / fregatten korvetten / handfeuerwaffen und drohnen / dann gilt noch immer / nur eins.“
Thomas Metscher, der zu dem Band einen nuancierten, souverän argumentierenden Essay als Nachwort beigesteuert hat, bezeichnet zu recht einen Satz Klaus Manns, der einem der Abschnitte vorangestellt ist, als Bauers „schriftstellerisches Credo“: „Wer sich berufen glaubt, die Summe menschlicher Erfahrung durch das Wort auszudrücken, darf nicht die dringlichsten Probleme – die Organisation des Friedens, die Verteilung menschlicher Güter – vernachlässigen oder gar ignorieren.“ Metscher weist darauf hin, dass die Gedichte Bauers in einer „Traditionslinie politischer Dichtung neuen Typs“ stehen, die um 1800 entstand und mit den revolutionären Erhebungen um die Mitte des 19. Jahrhunderts und der Arbeiterbewegung eine neue Qualität erhielt. Progressive politische Dichtung könne bis heute „nur eine solche sein, die den Idealen der Revolution Frankreichs die Treue hält, sie zugleich mit Impulsen verbindet, die der Arbeiterbewegung, der Oktoberrevolution und den antikolonialen Bewegungen“ entstamme. Vor allem aber: „Die Stellung zu Krieg und Frieden, heute wie einst, ist das politisch-ethische Grundkriterium für den Rang solcher Dichtung.“ Es gebe nicht viel an neuer deutschsprachiger Lyrik dieser Art. So füllten „die Texte Bauers nicht zuletzt auch eine Leerstelle aus“ und schlössen an Bewegungen an, „die weit über dem Niveau der hierzulande akkreditierten Literatur stehen.“
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Arnold Schölzel
Rudolph Bauer/Thomas Metscher: Aus gegebenem Anlass. Gedichte und Essay.
Tredition GmbH, Hamburg 2018, 194 Seiten, Paperback 18,90 Euro, Hardcover 24,90 Euro, E-Book 2,99 Euro
Die Besprechung erscheint bei RotFuchs, Oktober 2019