Kritische Bestandsaufnahme unserer Zeit

Rudolph Bauer: Zur Unzeit, gegeigt. Politische Lyrik und Bildmontagen
Buchtipp von Gert Sautermeister

Der Titel der neuen Lyrik-Sammlung von Rudolph Bauer schöpft deren Vielfalt nicht aus. Es handelt sich nicht nur um politische Lyrik im engeren Sinne, es handelt sich auch um eine sozial- und wirtschaftskritische Bestandsaufnahme unserer Zeit. Beispielhaft steht dafür „Neues Manifest for Future“. Das Bild einer tatenarmen und verantwortungslosen Politik wird dort ergänzt durch die allgegenwärtige Klimakatastrophe und durch die globalen Fluchtbewegungen, es wird angereichert durch die Interessen des Kapitals und deren Imperative zum Verzicht der „kleinen Leute“ auf ein wohlversorgtes Leben. So wird die Gegenwart nach ihren bedenklichsten Seiten hin aufgerollt und in ihren apokalyptischen Gefahren ausgeleuchtet.

Den Lesern sind die im Gedicht aufgezeigten Tendenzen der Zeitgeschichte im Laufe der letzten Jahre nach und nach bekannt geworden, zweifellos. Der Vorzug des lyrischen Gebildes aber ist, dass es unsere fragmentarischen Kenntnisse in einer Zusammenschau vereint und auf diese Weise eine vielseitige Zeitdiagnose in gedrängter Form bietet. Sein zweiter Vorzug ist, dass es unsere teilweise pauschalen Kenntnisse durch anschauliche Bilder versinnlicht. So wird die Klimakatastrophe unserer Einbildungskraft vorgeführt durch plastische Prägungen wie: „die schwarzen wolken taifunschwer“ oder“die gewässer kippen um zur gülle“. Solche bildkräftigen Blitzlichter sind es, die sich unserem Gedächtnis einprägen können und der umweltkritischen Botschaft Zündkraft verleihen

Es gehört zur Eigenart der diagnostischen Bestandsaufnahme Rudolph Bauers, dass sie ihren realitätshaltigen Pessimismus nicht zum Fatalismus verallgemeinert, sondern im Sinne des „Prinzips Hoffnung“ auflichtet und sich auf die Widerstandskraft gleichgesinnter „Schwestern und Brüder“ beruft: „der freie mensch ist angetreten / kämpft für das neue manifest“.- Es bleibt dringend zu wünschen, dass diese Hoffnung sich nicht zur Illusion verflüchtigt.

Anders als die meisten Gedichte in seinem Band hat der Autor sein „Neues Manifest“ mit Reimen versehen, eine Verfahrensweise, die ich sehr begrüße. Reime verstärken musikalisch die Eingängigkeit der Aussage und erzeugen im Leser einen Widerhall, der im Gedächtnis nachhaltiger fortwirkt als reimlose Verszeilen dies vermögen. Im Übrigen hat sich Bauer die moderne lyrische Technik durchaus zu eigen gemacht und bietet seine Gedichte ohne Interpunktion an. Das hat einen Nachteil, der sich als Vorteil enthüllt. Der Leser kann nicht rasch über die Verszeilen hinweggleiten, er muss vielmehr selbst Punkt und Komma und andere Satzzeichen ergänzen, das heißt er muss innehalten und sich das Gelesene erneut vergegenwärtigen, um seinen Sinn auszuschöpfen. Anders formuliert: Der Autor verlässt sich auf die Reflexionskraft seiner Leser und auf ihre Fähigkeit zur Kontemplation.

Es ist diese Fähigkeit, die Bauer mit anderen Gedichten fördert, indem er seine Aussagen in Kurzzeilen darbietet. Paradigmatisch hierfür steht das „Deutsche Narrativ“. In vier Kürzeststrophen komprimiert der Autor die deutsche Geschichte vom Kaiserreich über die beiden Weltkriege bis heute. Auf diese Weise wird eine verhängnisvolle Tradition sichtbar, die dem Leser durch einzelne Brennpunkte nahegelegt wird. Die Pointe der Geschichtsbetrachtung erfolgt in den beiden Schlusszeilen: „wieder vereint / im vorkrieg erneut“. Dem Leser ist es anheim gegeben, sich die Kürze dieser Pointe auf ihren verborgenen Gehalt durchsichtig zu machen. Er ist gehalten, aufgrund anderer Gedichte die Versuchung Deutschlands zu einer Wiederaufrüstung ins Spiel zu bringen. Präzision und Knappheit der Schlusszeilen regen die Leser zu einer produktiven Eigenleistung an. Diese Verknappung der Aussage, die den Leser zum aktiven Mitspieler macht, zählt für mich zu den interessantesten Seiten von Bauers Lyrik.

Was die politische Tradition Deutschlands betrifft, so hat Bauer dafür ein anderes eindringliches Beispiel gegeben. In der „Parteigeschichte“ hat er durch klug ausgewählte Brennpunkte eine verhängnisvolle Tendenz der SPD aufgehellt und ihre einst revolutionäre Richtung in ihr Gegenteil aufgezeigt. Auch hier sind es Kürzestzeilen, die partiell mit geschichtlich gehaltvollen Schlagworten operieren, die des Lesers Erinnerungskraft freisetzen.

Eine Gegentradition macht der Band an verschiedenen Stellen transparent, am markantesten im Schlussgedicht „Eine Zeitungsnotiz lesend“. Die unverblümte Kritik an der Gegenwart mit Einschluss der repressiven französischen Regierung mündet in eine finale Emphase, die durch ihre Metaphorik an die „Internationale“ erinnert: „zersprengend / unsere Ketten“ so lautet der Wunsch des Autors im Hinblick auf seine erhofften Mitstreiter und ihre Triebkräfte.

Den Gedichten sind Bildmontagen beigegeben, die nicht eigens erklärt werden. Ich halte das für einen sehenswerten Vorteil. Der Betrachter kann angesichts der namenlosen Bilder sein Erinnerungsvermögen und seine Phantasie ins Spiel bringen und auf diese Weise den verschwiegenen Sinngehalt der Bilder selbst entziffern. Darüber hinaus ergeben sich zwischen den lyrischen Worten und den bildlichen Darstellungen Assoziationsräume, die den betrachtenden Leser bzw. den lesenden Betrachter zu Entdeckungen anregen.

Quelle: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=27129