Politische Lyrik und Bildmontagen
Von Detlef Michelers
Der Gedichtband „Zur Unzeit, gegeigt“ von Rudolph Bauer gehört zur Kategorie Politische Lyrik. Diese knüpft an bei Vorläufern wie Heinrich Heine und Kurt Tucholsky, Bert Brecht und Günter Eich, Peter Hacks und Pablo Neruda. Die Nennung solcher Protagonisten kann irreführende Erwartungen wecken. Wie bei ihnen erhebt sich die poetische Stimme des Autors auch heute wieder „zur Unzeit“. Aber sie hat einen unverkennbar eigenen, eigenwilligen, eigensinnigen Klang. Ihr Sound – poetisch „gegeigt“ – ist unterfüttert mit historischer Kenntnis, politischer Klarheit und kritischer Schärfe.
Die Gedichtsammlung umfasst sechs Kapitel mit jeweils fünf Texten. Diese handeln von brandaktuellen Ereignissen wie dem militärischen Nato- und US-Manöver Defender Europe 2020. Sie erinnern an revolutionäre Aufbrüche in der Geschichte der Arbeiterbewegung und an die reaktionären Massaker durch Polizei und die preußische Soldateska. Zum Teil reichen sie auch zurück in die Antike. Oder sie nehmen politische Entscheidungen und Parteien zum Anlass – unseren Alltag, das heutige und das frühere Europa, Zeitungsnotizen, den Tod eines Künstler-Freundes.
Die Gedichtsammlung ist vielstimmig und stimmgewaltig. Sie lässt schroffe Verzweiflung spüren und heiße Wut, sarkastischen Zorn und schmerzliche Bitternis. Aber sie ist auch nicht ohne Hoffnung, nicht ohne den Ausblick auf Frieden und Glück. Zusätzlich zu den Gedichten enthält der Band politisch motivierte Bildmontagen des Autors. Dadurch erlangt die Gedicht- und Bildersammlung den Rang eines zeitgenössischen Anti-Dokuments – sich behauptend jenseits des herrschenden, bis zum Geschmack- und Belanglosen eingeebneten Plateaus von gesellschaftspolitischer Gleichgültigkeit und ästhetischer Affirmation in Literatur und Bildender Kunst.
Der Band ist in sieben und ein umfangreich erklärendes achtes Kapitel unterteilt, denen jeweils ein Zitat von Johann Gottfried Herder, dem deutschen Dichter, Theologen und Philosophen der Weimarer Klassik vorangestellt ist: „Nach vielen Zeugnissen der Alten war Poesie bei ihnen vom stärksten Einflusse auf die Sinne. Sie … soll den Stab der Macht gehabt haben, Tiere zu bändigen, Steine zu beleben, den Seelen der Menschen einzuhauchen, was man wollte.“
Mit diesem Zitat, das einer idealisierten Wunschvorstellung Herders entspricht, spannt Rudolph Bauer ein hohes Seil, schlägt den Bogen von der Antike bis in die Gegenwart. Will er doch nichts weniger, als die Leser mit seiner Lyrik überzeugen, sie mit seinen Worten begeistern, agitieren und aufklären. Bereits das erste Gedicht – in dem er Eirene, die Friedensgöttin, besingt – gibt die Friedensrichtlinie vor und setzt den Maßstab. Mit Harfenklängen preist er sie: Eirene „mit dem füllhorn von glück“, „mit dem reichtum der ernte“, „mit den duftleuchtenden knospen der flora“.
Dieses paradiesisch holde Bild vom Frieden, der alle gesellschaftlichen Probleme zerstäubt, kann nur noch durch einen Wahlspruch aus DDR-Zeiten der letzte Glanz verliehen werden: „Unsere Rassegeflügelzucht kann nur im Frieden betrieben werden, deshalb ist jeder Rassegeflügelzüchter ein Kämpfer für den Frieden.“
Warum der Autor im zweiten Gedicht fragt, welcher „schuft“ aus Artemis, der Göttin der Jagd, des Waldes, der Geburt und Hüterin der Frauen und Kinder, „die göttin des krieges geschmiedet“ hat, erklärt sich allerdings nicht. Die Spartaner hatten ihr den Namen Agrotera, Jägerin, gegeben und opferten ihr vor der Schlacht. Aber die Zuschreibung als Göttin des Krieges ist nicht belegt.
Die Themen Krieg und Frieden, Unterdrückung und Unrecht, Rüstung und Abrüstung, Macht und Ohnmacht, Ruhe und Ordnung durchziehen den knapp 160 Seiten umfassenden Band. Rudolph Bauer führt uns – nicht nur – durch die deutsche Geschichte. In kraftvollen Moritaten blättert er die „Novemberrevolution 1918“ auf, beschreibt den „März 1920“, erzählt die „Parteigeschichte“ der SPD vom „kriegsrüstungserbe“ bis zum merkelliberale(n) koalitionserbe“, die mit dem Schlachtruf der frühen 30er Jahre, der in den 60ern wiederhallte, zu umfassen ist: „Wer hat uns verraten – Sozialdemokraten!“
In seiner Ode „Neues Europa“, die er dem Literaturwissenschaftler und Philosophen Thomas Metscher widmet, verknüpft er die Kritik an den vergangenen und gegenwärtigen Zuständen mit dem fast flehentlich vorgetragenen Wunsch nach
„freiheit frieden glückliche frohe paare
dafür mögen unsere völker kämpfen
künftig ohne kriege befreit gewaltlos
das sei europa“
Im trommelnden Rhythmus von Mutter Courage fordert er in seiner „Nachricht von der Nähe des Paradieses“ die Schließung von Ramstein, die Einstellung der Drohnenangriffe und Waffenexporte. Nicht ohne – ebenso wie in vielen weiteren Texten – auch in diesem Gedicht das Licht am Ende des Tunnels zu beschwören:
„wenn die kriegsgeschwüre heilen
ist der ort wo menschen weilen
ein planet des singens tanzens
schaffens liebens und des friedens“
Trotz seiner verknappten, präzisen benennenden, teils retardierenden Sprache und seines kämpferischen Weckrufs nach Erinnerung, Veränderung und Erneuerung verblüfft er mit seinem Gedicht „Unser Schwert“ zunächst mit der Diagnose: „gedichte sind still und harmlos“. Aber der Titel suggeriert uns, dass es doch einen Pfad gibt, der uns in die Richtung lenkt, wo unter dem Pflaster der Strand liegt.
Denn „den herrschenden“ sitzt
„die angst im nacken
vor liedern texten songs …
denn sie fürchten die wahrheit“
Das Zitat von Johann Gottfried Herder: „Aus der Mündung der Kanonen flammen keine politischen Taten“*) ist dem siebten Kapitel mitgegeben. Eine Phrase, die sich auch heute gut auf Demonstrationen verwenden ließe: Kurz, knapp, plakativ, nicht zu widerlegen. Rudolph Bauer versammelt unter diesem Zitat Texte, mit denen er uns auffordert, unsere Komfortzone zu verlassen, aktiv zu werden. Um die altväterlich wirkenden Protestreime gegen das Kriegsmanöver defender 2020 („uniformträger laden wir ein – zechen mit ihnen burgunderwein – machen sie frank und offen – besoffen“ und das „Neues Manifest for future“ etwas aufzupeppen, biete ich gerne einige Demosprüche der letzten Zeit an. Z. B. „Pillepalle statt Klimaschutz“, „Let’s fuck each other, not mother earth“, „Früher war Fisch in der Packung, heute ist Packung im Fisch“, „Reiche Eltern für alle“ oder „Die Sonne fickt auch die Unwissenden.“
Die Bildcollagen, die den Kapiteln zugeordnet sind, unterstützen die Texte. Da ist (vermutlich) Eirene, die Friedensgöttin, die von einem Hinrichtungskommando der Wehrmacht erschossen wird; da sind Kinder mit Spielzeuggewehren, die vor großen Totenschädeln über den Boden robben, und preußische Soldaten treffen auf polierte menschliche Kampfpanzer. Der Autor verzichtet größtenteils auf die heutigen digitalen Möglichkeiten der Bildbearbeitung, so dass die Montagen in ihrer groben Struktur stark an John Heartfield erinnern. Durch das Aufeinanderprallen der Bildausschnitte entwickeln die Collagen eine eigene Dynamik, zerstören sie die geleckte Oberfläche und offenbaren die in ihnen enthaltene Aggressivität. Bis auf die Collagen zu Greta Thunberg und ihrem Skolstrejk, Julian Assange sowie Edward Snowden. Hier schwingt Sympathie mit.
*) Der Rezensent hat das Zitat nicht richtig wiedergegeben. Es lautet im Original: „Aus der Mündung der Kanonen flammen keine poetischen Taten“, nicht „keine politischen Taten“.